Deutsche Bahn: Verspätungen, Milliardenprojekte und die Frage nach der Zukunft des Schienennetzes

Jeder kennt die Situation: Man steht am Bahnsteig, der Termin rückt näher – und dann die Durchsage: „Zug verspätet sich um 45 Minuten.“ Noch schlimmer: Der Zug fällt ganz aus. Für viele Bahnreisende ist das Alltag. Doch die häufigen Verspätungen sind nur die sichtbare Spitze eines viel größeren Problems. Hinter dem deutschen Bahnnetz verbergen sich Geschichten von Fehlentscheidungen, veralteter Technik und milliardenschweren Projekten, die bis heute umstritten sind.

Ein marodes Schienennetz

Deutschland gilt weltweit als Land der Ingenieurskunst und Präzision – doch die Realität auf der Schiene sieht anders aus. Das Netz umfasst knapp 33.000 Kilometer, doch fast jede vierte Weiche ist sanierungsbedürftig. Rund 40 Prozent der Stellwerke sind älter als 40 Jahre, manche stammen sogar noch aus der Kaiserzeit. Technik mit Relais und Handkurbeln ist nach wie vor im Einsatz. Die Folgen sind Störungen, Ausfälle und ein unzuverlässiger Fahrplan.

2023 kamen über 60 Prozent aller Fernverkehrszüge unpünktlich ans Ziel. Damit zählt Deutschland zu den Schlusslichtern in Europa. Der Investitionsstau beläuft sich Schätzungen zufolge auf fast 100 Milliarden Euro – mehr als das Sondervermögen für die Bundeswehr. Die Diagnose ist eindeutig: Das Bahnnetz fährt auf Verschleiß.

Die Generalsanierung – Hoffnung oder Chaos?

Statt das Netz kontinuierlich zu modernisieren, wurde jahrzehntelang nur geflickt. Nun soll eine groß angelegte Generalsanierung das System retten. Auf 4.000 Kilometern der wichtigsten Strecken wird gleichzeitig saniert: längere Bahnsteige, moderne Signaltechnik, digitale Stellwerke. Ziel ist ein Hochleistungsnetz, das der wachsenden Nachfrage gerecht wird – Prognosen sprechen von fast 30 Millionen Bahnreisenden pro Tag in der Zukunft.

Doch die Generalsanierung hat ihren Preis: Während der Bauarbeiten werden zentrale Korridore monatelang komplett gesperrt. Pendler müssen mit längeren Fahrzeiten, Stress und Umwegen leben.

Ein erstes Projekt, die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim, wurde 2024 erfolgreich abgeschlossen. In fünf Monaten wurden 152 Weichen, 619 Signale, 130 Kilometer Oberleitung und 20 Bahnhöfe erneuert – für 1,5 Milliarden Euro. Seitdem ist die Pünktlichkeit spürbar gestiegen. Aber die Riedbahn ist nur 120 Kilometer lang – das gesamte Netz ist ein Vielfaches davon. Bis 2031 soll alles fertig sein, doch Zweifel an diesem Zeitplan sind groß.

Deutsche Bahn: Konzern zwischen Staat und Wirtschaft

Ein weiteres Problem ist die Struktur der Deutschen Bahn. Seit 1994 ist sie eine Aktiengesellschaft, gehört aber weiterhin zu 100 Prozent dem Bund. Der geplante Börsengang scheiterte, doch das Unternehmen blieb ein Konzern – mit mehr als 350 Tochtergesellschaften und einer Bürokratie, die schnelle Entscheidungen erschwert.

Mehrere Bahnchefs kamen und gingen, ohne die Probleme nachhaltig zu lösen. Auch der letzte Vorstandsvorsitzende Richard Lutz verließ sein Amt vorzeitig. Klar ist: Ein Wechsel an der Spitze allein reicht nicht, um die Bahn zu sanieren.

Die „Erfurt-Beule“ – eine Fehlentscheidung mit Milliardenkosten

Ein besonders umstrittenes Kapitel ist die Schnellfahrstrecke Berlin–München, auch „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8“. Die Idee: In 3,5 Stunden von Berlin nach München. Doch statt der direkten Route über Gera und Leipzig setzte sich 1991 Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel durch – mit Erfurt als Zwischenstopp.

Das Ergebnis ist die sogenannte „Erfurt-Beule“: ein Umweg durch den Thüringer Wald, der zusätzliche 22 Tunnel und 29 Brücken erforderte. Die Kosten stiegen dadurch um mehr als 5,8 Milliarden Euro – vollständig aus Steuergeldern. Für den Güterverkehr wurde die Strecke als wichtig dargestellt, doch tatsächlich fahren hier nur wenige Frachten. Für Städte wie Gera oder Zwickau bedeutete die Umleitung den Verlust eines ICE-Anschlusses – mit massiven Folgen für Wirtschaft und Infrastruktur.

Politik, Lobbyismus und Skandale

Hinter den Entscheidungen zum Bahnnetz stehen nicht nur technische, sondern auch politische und wirtschaftliche Interessen. CDU-Politiker Vogel setzte die Umleitung durch, angeblich mit Rückendeckung von Kanzler Helmut Kohl. Auch Lobbyismus spielte eine Rolle: Tunnelbauunternehmen wie die Herrenknecht AG profitierten direkt vom Bau, während Parteispenden an CDU und SPD immer wieder für Diskussionen sorgten.

Hinzu kam ein handfester Skandal: Ein Kartell aus Stahlkonzernen wie Thyssen-Krupp und Voestalpine sprach jahrelang Preise für Schienen ab. Die Beteiligten gaben sich Decknamen wie „Domina“ oder „Hannibal Lecter“ und trafen sich in Luxusbordellen. 2011 flog das Kartell auf, die Bahn erhielt Schadenersatz in Millionenhöhe – der tatsächliche Schaden wird jedoch auf über eine Milliarde Euro geschätzt.

Dauerbaustelle oder Zukunftsprojekt?

Das deutsche Bahnnetz ist ein Spiegel von Politik, Machtspielen und Fehlentscheidungen. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Riedbahn, dass eine konsequente Modernisierung Wirkung haben kann. Doch bis zur vollständigen Generalsanierung werden Millionen Reisende noch jahrelang mit Verspätungen und Sperrungen leben müssen.

Ob es gelingt, das Schienennetz zu retten, hängt von drei Faktoren ab: ausreichender Finanzierung, ausreichend Fachkräften und einem klaren politischen Willen. Sicher ist nur: Ohne ein leistungsfähiges Bahnnetz wird Deutschland weder seine Klimaziele erreichen noch im internationalen Vergleich konkurrenzfähig bleiben.

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