Die Lagunenstadt und die Bedrohung des steigenden Meeresspiegels
September 22, 2024
Venedig ist eine wunderschöne Stadt. Doch sie hat - neben dem Massentourismus - ein weiteres, existenzbedrohendes Problem. Venedig ist wortwörtlich dem Untergang geweiht! Doch eine 7 Mrd. Euro teure Schutzanlage soll nun genau dies verhindern.
Viele kennen Venedig sicherlich als italienische Stadt, die bekannt ist für ihre Kanäle, Brücken und Architektur. Unklar ist jedoch, wie lange Venedig überhaupt noch zu bereisen und sogar zu bewohnen ist. Geht man vom schlimmsten Fall aus, könnte das bereits im Jahr 2100 nicht mehr möglich sein. Das Wasser, welches der UNESCO Weltkulturstadt ihren besonderen Charme verleiht, entwickelt sich zunehmend zu ihrem größten Feind.
Aufgrund des immer weiter steigenden Meeresspiegels, Hochwasserereignissen in den Wintermonaten und einem absinkenden Untergrund häufen sich Überschwemmungen in den letzten Jahren. Schätzungen venezianischer Forscher zufolge ist der Meeresspiegel in den letzten Jahrzehnten um durchschnittlich 13 cm gestiegen. Gleichzeitig sank der Untergrund der Lagune um ca. zehn Zentimeter. Auch wenn die Stadt schon immer mit Wasser zu kämpfen hatte, nimmt die Häufigkeit und vor allem die Intensität der Überflutungen immer weiter zu.
Weit vor der Lagune befindet sich die vermeintliche Lösung zur Rettung der Stadt. Seit 2020 ist das gigantische Ingenieursbauwerk MO.S.E nun in Betrieb. MO.S.E steht für experimentelles elektromechanisches Modul und ist namentlich an den biblischen Propheten Moses angelehnt, der, wie die Anlage auch, Wasser teilte.
Die Schutzanlage besteht aus 78 Fluttoren – jeweils 30 Meter hoch, 20 Meter breit, fünf Meter dick und 250 Tonnen schwer. Sie schützen die Stadt vor dem Wasser, doch es gibt auch Kritik an der Anlage.
Wie der BER von Italien, nur schlimmer – so lautet die Bilanz des Projektes. Jahrzehnte lange Planung, jahrelang verzögerte Fertigstellung, Korruption und stolze 7 Mrd. Euro Kosten. Ein Minister wurde sogar zu vier Jahren Gefängnis verurteilt und auch eine Finanzholding der Familie Berlusconi war am Bau beteiligt. Dazu wird die Effektivität des Flutschutzsystems immer wieder in Frage gestellt.
Venedig befindet sich in einer Lagune, die sich von Brenta bis nach Sile erstreckt. Über drei Öffnungen ist die Lagune mit der Adria verbunden. Durch diese drei Öffnungen steigt das Wasser zweimal täglich mit der Flut an und dringt in die Kanäle Venedigs. Die Metallbarrieren von MO.S.E wurden strategisch in vier Reihen um diese Einlässe herum platziert.
Sie befinden sich in riesigen Betonsenkkästen, die an Land vorgefertigt und dann in Gräben auf dem Meeresboden versenkt wurden. Allein der Transport und die Installation der jeweils 12.000 Tonnen schweren Betonkästen am Meeresboden war eine große Herausforderung.Eine eigens für dieses Projekt angefertigte und weltweit einzigartige hydraulische Hebebühne ließ die Kästen zu Wasser. Wenn sie nicht in Gebrauch sind, werden die hohlen Stahlkästen mit Wasser gefüllt und liegen auf dem Grund des Meeres.
Wenn jedoch eine Flut mit einem Anstieg von mehr als 110 Zentimeter vorhergesagt wird, strömt Druckluft in die Tore und drückt das Wasser heraus. An Scharnieren befestigt, stellen sich die Tore dann quasi automatisch auf. Sie steigen an die Wasseroberfläche nach oben und blockieren die Einlässe, sodass die ankommende Flut nicht mehr in die Lagune eindringen kann. Wenn der Wasserstand dann wieder fällt, füllen sich die Tore und sinken automatisch unter die Wasseroberfläche, sodass die Schiffe passieren können.
Während zwischen 1900 und 1950 im Schnitt nur zwei sogenannte "Aqua Alta" also Hochwasserereignisse pro Jahrzehnt eintraten, sind es mittlerweile schon 40. 2019 hatte die Stadt dann mit dem höchsten jährlichen Winterhochwasser seit 50 Jahren zu kämpfen, wobei nahezu 80 % der Stadt unter Wasser standen.
2022 wurde die Stadt dann zuletzt überschwemmt. Doch moment mal – 2022? War die MO.S.E Anlage da nicht schon in Betrieb?
In den letzten Jahren hat MO.S.E viele potenzielle Überschwemmungen gestoppt.Aber für die aktuellen Entwicklungen ist das Flutschutzsystem laut mehreren Berechnungen weiterhin unterdimensioniert. Das Sperrwerk wurde bereits in den 80ern entworfen und sollte eigentlich in den 2010er Jahren in Betrieb genommen werden. Tatsächlich wurde die Installation erst ein Jahrzehnt später umgesetzt. Seitdem hat sich unser Verständnis des Klimawandels und seinen erwarteten Auswirkungen massiv weiterentwickelt. Die prognostizierten Szenarien, für die MO.S.E gebaut wurde, sind inzwischen überholt.
Hinzu kommt, dass man sich entschieden hat den Schutzwall erst zu aktivieren, wenn ein Tidenhub von 110 cm erreicht ist. Dadurch werden nur etwa 86 Prozent der Stadt geschützt. Das führt aber auch dazu, dass Teile der Stadt weiterhin häufig überflutet werden. Der Markusplatz verwandelt sich beispielsweise bereits in einen großen See, wenn die Flut mehr als 80 cm über den normalen Pegel steigt. Viele Einwohner, Unternehmen und Betreiber historischer Sehenswürdigkeiten sind deshalb ziemlich enttäuscht. Man muss aber berücksichtigen, dass ein geringerer Schwellenwert zu etwa 80 - 100 Öffnungen und Schließungen pro Jahr führen würde – eine Häufigkeit, für die das System noch nicht gerüstet ist.
Das Hochfahren der Anlage durch den Betreiber verursacht zudem angeblich Kosten von 300.000 Euro pro Hub. Deshalb kommen nun zusätzliche Glasabsperrungen zum Einsatz, die vor allem Sehenswürdigkeiten und historische Gebäude schützen.
Auch die Auswirkungen häufiger oder längerer Schließungen auf die Lagune sind nicht untersucht. Schon jetzt gibt es die Sorge, dass bei tagelanger Abriegelung der Adria das Ökosystem in der Lagune leidet, etwa durch fehlenden Sauerstoff. Aus der Lagune wird dann eine Kloake. Ähnlich wie Venedig könnte es bald vielen europäischen Städten gehen.
Schreitet der Klimawandel weiter voran, sind die Lebensräume von insgesamt 15 europäischen Ländern, darunter England, die Niederlande, Belgien und auch Deutschland durch den steigenden Meeresspiegel bedroht. Dies beträfe etwa 25 Mio. Menschen.
Zwei Wissenschaftler vom Königlichen niederländischen Institut für Meeresforschung und vom Geomar-Institut in Kiel haben zum Schutz Europas einen unglaublichen Vorschlag untersucht.
Ihrer Studie zufolge wären der Bau von zwei Riesendämmen zur Abschottung der kompletten Nordsee deutlich effektiver, als viele Einzelmaßnahmen an den individuellen Küsten umzusetzen. Ein 160 km langer Damm zwischen England und Frankreich und ein weiterer mit 480 km zwischen Schottland und Norwegen könnte den Ausweg bieten. Das Projekt läuft unter dem Namen: North Sea Enclosure Dyke. Die Kosten für den Bau wurden auf der Basis bereits bestehender Staudämme geschätzt. Sie lägen nach heutigem Stand zwischen 250 und 550 Milliarden Euro.
Welchen Einfluss ein solches Projekt auf bestehende Ökosysteme, den Handel, Schifffahrt und Fischerei hätte, ist aktuell nicht vorstellbar. Die beiden Wissenschaftler betonten in ihrer Untersuchung jedoch mehrfach, dass Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels unbedingt vorzuziehen sind.
Wie auch immer sich der Klimawandel und der damit verbundene Anstieg des Meeresspiegels entwickeln wird, klar ist, dass wir in Zukunft daran arbeiten müssen, auch in der Baubranche nachhaltigere Gebäude zu bauen.