Gekommen für den Innovationsschub: Wie Tim-Oliver Müller den Hauptverband der Deutschen Bauindustrie modernisieren will

Tim-Oliver Müller (Hauptgeschäftsführer vom Hauptverband der Deutschen Bauindustrie) und Michél-Philipp Maruhn (Host & Founder DIGITALWERK)

Tim-Oliver Müller (Hauptgeschäftsführer vom Hauptverband der Deutschen Bauindustrie) und Michél-Philipp Maruhn (Host & Founder DIGITALWERK)

2000 Unternehmen, 160 Milliarden Umsatz in 2022: Die Baubranche gehört zu den Schlüsselindustrien in Deutschland. Damit das so bleibt, muss sie sich dringend transformieren.

Das Baugewerbe ist einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Fast sechs Prozent aller Erwerbstätigen sind in der Branche beschäftigt. 2021 trug der Industriezweig 5,9 % zur gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung bei. Der Anteil des für Bauinvestitionen verwendeten Bruttoinlandsproduktes, der für Bauinvestitionen war mit 11,6 % beinahe doppelt so hoch. Damit gilt die Bauindustrie als Schlüsselbranche in Deutschland. Seit Juli 2021 ist Tim-Oliver Müller Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB). An ihn sind hohe Erwartungen geknüpft.

Der Hauptverband ist ein Zusammenschluss der bauindustriellen Landesverbände der Spitzenorganisation der Bauindustrie in Deutschland und repräsentiert rund 2000 große wie mittelständische Unternehmen, deren Umsatz im vergangenen Jahr mehr als 160 Milliarden Euro betrug. Der HDB setzt sich für die Gesamtinteressen der Branche gegenüber der Politik, Verwaltung und der Gesellschaft ein, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern.

Tim-Oliver Müller ist der jüngste Geschäftsführer in der Geschichte des HDB. Er hat die Aufgabe, den Verband zu modernisieren, für den so dringend benötigten Innovationsschub zu sorgen. Er will die Mitgliedsunternehmen bei der Digitalisierung und dem Wandel zum nachhaltigen Bauen unterstützen und sich in der politischen Arbeit für eine offene Kultur der Transparenz einsetzen. 

Die Stimmung in der Baubranche hat sich 2022 verdüstert. Die Auftragslage war schwach, hinzu kamen hohe Material- und Zinskosten. Der Verband erwartet für 2023 allein im Wohnungsbau einen Umsatzeinbruch von neun Prozent. 2022 waren es bereits 4,5 Prozent. Daneben stehen Herausforderungen im Kontext klimaneutralen und modernen Bauens wie das Recycling von Baurohstoffen in einer Kreislaufwirtschaft oder die detailgenaue digitale Dokumentation der in einem Projekt verwendeten Materialien. 

Warum schafft keiner die 400.000?

Mit der Berufung zum Hauptgeschäftsführer ist Tim-Oliver Müller zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Nachdem er strategisches Management in Berlin studierte, stieg er 2011 beim HDB als Referent für Infrastrukturpolitik und Partnerschaftsmodelle ein und beschäftigte sich als solcher unter anderem mit verschiedenen Finanzierungsinstrumente für Bauvorhaben. Inzwischen leistet er Verbandsarbeit auf verschiedenen Ebenen, damit bauen in Deutschland gut, effizient, klimagerecht und ressourcenschonend möglich ist.

Die Bauindustrie gestaltet Räume für Arbeits- und Lebenswelten. Zeitgleich ist sie stark reguliert, unterliegt zahlreichen Vorschriften. Die Auseinandersetzung mit Standards und Normen steht in dem Wirtschaftsverband ebenso auf der Agenda wie die Unterstützung der Bauunternehmen bei der Generierung von Fachkräften und damit einhergehend tariflichen Rahmenbedingungen.

Die Verbandsarbeit wird derzeit von 45 Kolleginnen und Kollegen realisiert. Zu den zentralen Fragen, die Tim-Oliver Müller seit seinem Amtsantritt häufiger gestellt bekommt, zählt die nach der Realisierung dringend benötigten Wohnraums. In 2022 wurden rund 285.000 Wohnungen neu gebaut. Die Zielsetzung lag bei 400.000 Wohneinheiten.

„2023 werden wir noch weniger bauen. Wir schätzen weniger als 250.000 Wohnungen. Wenn wir über die Rahmenbedingungen im Wohnungsbau sprechen, wird schnell deutlich, dass das 400.000-Ziel auch in den nächsten Jahren nicht zu erreichen ist.“

Der Zuzug in den Städten bleibt ungebrochen, der Wohnraum dagegen knapp. Die Gründe liegen auf der Hand: Das Leben in der Stadt mit seinen Kulturstätten, Bildungseinrichtungen und Versorgungsmärkten gestaltet sich oftmals einfacher als das Leben auf dem Land. Um Flächen nicht weiter zu versiegeln, müssen Wohngebäude nicht mehr in die Breite, sondern in die Höhe wachsen – da sind sich die gesamte Branche und die Politik einig. 

Auch wenn die Bauindustrie während der Corona-Pandemie als wirtschaftliches Zugpferd das Produktionsniveau hochgehalten hat und die Baustellen weiter liefen, wurden erste Materialengpässe sichtbar. Der Holzbereich verzeichnete den ersten Mangel. Zu den größten Lieferanten zählt Kanada. Die Industrienation verzeichnete zur selben Zeit einen Borkenkäfer-Befall. Die Nachfrage war höher als das Holzangebot. Im Ergebnis gingen die Materialpreise nach oben. Das zusätzliche Kriegsgeschehen in der Ukraine ließ Lieferketten vollständig zusammenbrechen, vor allem im Stahl-Segment. 

Insbesondere bei laufenden Projekten wurden die enormen Preissteigerungen, die aufgrund des Weltgeschehens entstanden sind, zu einem großen existenziellen Problem. Betroffen waren in erster Linie die Unternehmen, die Festpreis-Verträge angeboten haben und nun Materialien zu neuen Preisen beschaffen mussten. Da sich niemand eine Bauruine leisten möchte, wurden und werden die Projekte zum Abschluss gebracht. Nur so kann mit einer Refinanzierung der Kosten begonnen werden. 

Für die kommenden Jahre zeichnet sich jedoch ein weiteres Problem ab: ein eklatanter Fachkräftemangel, vornehmlich bedingt durch altersbedingte Renteneintritte. Im Durchschnitt ist die Belegschaft in den einzelnen Unternehmen derzeit 55 Jahre und älter. 2030 fehlen aufgrund des demografischen Wandels in der Bauwirtschaft etwa 130.000 Beschäftigte, trotz guter Einstellungsquoten von 200.000 Arbeitnehmerinnen und -nehmern in den vergangenen zehn Jahren. Eine kluge Einwanderungspolitik könnte das Problem anteilig verringern. Eine weitere Lösung liegt im modularen, seriellen Bauen. Und das nicht nur für den Hochbau, sondern auch für den Brückenbau und nicht nur für Neubau-, sondern auch für Sanierungsvorhaben.  

Wie „sexy“ ist die Bauindustrie?

Die Baubranche wird häufig mit Begriffen wie Lärm und Dreck in Verbindung gebracht. Beide Parameter gelten bei der Gewinnung des Nachwuchses als schwierig. Tim-Oliver Müller setzt deshalb lieber auf die hohe Ingenieurkompetenz, auf die umweltpolitischen Potenziale des Sektors und digitale Trends. In Hinblick auf die Digitalisierung sei die Branche in weiten Teilen bereits besser als ihr Ruf, auch wenn die Unterschiede zwischen der öffentliche Bauverwaltung und der privaten signifikant sind. Private Industrieunternehmen sind flexibler in ihren Aufträgen. Dies ermöglicht den Bauunternehmen neue Software-Tools einzusetzen und eine moderne Kommunikation zu pflegen. 

Zahlreiche Unternehmen seien im Digitalisieren eigener Unternehmensprozesse bereits wichtige Schritte gegangen, andere – die größeren Mittelständler und großen Firmen – sind noch ein Stück weiter, nicht zuletzt weil sie andere Investitionsmöglichkeiten haben.  Die Aufgabe des Verbandes besteht deshalb auch darin, den kleineren Unternehmen zu erklären, warum sie aktiv werden müssen. Der HDB sensibilisiert, kommuniziert und achtet darauf, dass ein Teil der Branche nicht vorne wegrennt und der Rest auf der Strecke bleibt.

Derzeit baut der HDB eine Construction-Tech-Plattform auf, die es ermöglicht, dass sich die Unternehmen digital begegnen. Tim-Oliver Müller ist davon überzeugt, dass die Branche in dieser Beziehung auch von Start-ups lernen kann, zum Beispiel hinsichtlich der Herangehensweise an Projekte. Der standardisierte 2D-Plan, gefolgt von der Ausschreibung und einer Abfolge an ausführenden Gewerken werden abgelöst durch Künstliche Intelligenz, die Gebäude vollständig digital analysiert, Bestellungen auslöst, Materialien clustert und so ein neues Kapitel in der Kreislaufwirtschaft aufschlägt. 

Auf bürokratischer Ebene werden in diesem Jahr Verwaltungsprozesse mit dem digitalen Antrag erleichtert. 2024 soll zudem der digitale Bauantragsprozess möglich sein. Wie die bundespolitischen Vorgaben im Einzelnen umgesetzt werden, obliegt in der Regel den Ländern und Kommunen. Der HDB-Geschäftsführer hofft, dass die Politik den Mut aufbringt, diese 16 unterschiedlichen Regelungen in den Ländern so zu harmonisieren, dass letztlich ein Standard definiert wird. 

Die Bauaufgaben sind gewaltig. Tim-Oliver Müller wagt die These, dass jedes Bauunternehmen auch in den nächsten 50 Jahren genug zu tun hat. Die Branche schafft Gebäude, die Generationen überdauern. Jede Immobilie wird mit viel Tatkraft erschaffen. 

„Wir fahren in andere Städte und gucken uns monumentale Bauwerke wie den Eiffelturm oder die wunderbare Kirche in Barcelona an, die über mehrere hundert Jahre gebaut wurde. Wenn das nicht geil ist, weiß ich auch nicht.“

Entlang der Wertschöpfungskette Bau sind zahlreiche Player unterwegs: vom planenden Architekten bis zum ausführenden Handwerksbetrieb. Bislang ist jeder in seinem Silo unterwegs. Hier müsse ein Paradigmenwechsel stattfinden, um die optimale Lösung für ein Bauwerk zu finden. Die Kollaboration kann in einem Datenraum stattfinden, in dem Informationen über das jeweilige Gebäude hinterlegt sind. Alle Daten sind transparent, jeder weiß, wo der andere dran arbeitet, wo er was verstellt hat, welche Schraube links oder rechts umgedreht wird. Am Ende zählt das Gesamtergebnis

Die Zusammenarbeit spielt auch im Zusammenhang mit dem Ausbau der Kreislaufwirtschaft eine zentrale Rolle, damit nicht nur der Bau, sondern am Ende auch der Gebäudebetrieb und die Erhaltung eines Bauwerks klimagerecht und ressourceneffizient gelingen können. Derzeit gilt die Bauwirtschaft als größter Abfallverursacher in Deutschland. Bei mineralischen Baustoffen liegt die Wiederverwertungsquote bereits bei rund 95 Prozent. Derzeit wird auf bundespolitischer Ebene eine Verordnung vorbereitet, die definiert, wann Abfall wieder zu einem Produkt werden darf. Erste Pilotprojekte, die komplett aus Recyclingmaterial gemacht wurden, gibt es bereits. Noch sind sie die Ausnahme, sogenannte Leuchttürme. 

Damit sich das ändert, braucht es Regulatoren. Es braucht ein einheitliches Schema für eine Ökobilanz. Nur so können die technischen und innovativen Möglichkeiten des Marktes eingesetzt werden. Und es braucht eine einheitlich verbindlich vorgegebene Datengrundlage, damit ein Auftraggeber bewerten kann, was ökologisch nachhaltig und ressourcenschonend ist. Am Ende müsse also die Politik entscheiden, welchen Weg die Bauindustrie gehen soll.  

Die Themen des DIGITALWERK Podcasts mit Tim-Oliver und Michél im Überblick:

  • Warum Bauen kein Selbstzweck ist (00:05:40)
  • Welche Effekte die Corona-Pandemie auf die Bauindustrie hat(te) (00:06:39)
  • Warum die Branche besser ist als ihr Ruf (00:13:39)
  • Was die Politik leisten muss (00:24:58)
  • Wie Silodenken Fortschritt verhindert (00:28:53)

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